Karsten Junius: Europa-Skepsis wird bleiben

GASTKOMMENTAR

GASTKOMMENTAR | Rein ökonomische Argumente für Personenfreizügigkeit reichen nicht. Populistische und europakritische Parteien mögen in diesem Jahr bei den Wahlen in Europa keine Mehrheiten erhalten haben. Es ist aber nur eine Frage der Zeit, wenn es Ökonomen und Politikern nicht gelingt, die Vorteile der europäischen Integration besser zu vermitteln. Insbesondere die Personenfreizügigkeit scheint vielen Bürgern zu missfallen. Erklärungen, dass eine höhere Mobilität zu einem höheren Bruttoinlandsprodukt führen, reichen dabei nicht, sagt Karsten Junius, Chefökonom der Bank J. Safra Sarasin aus Basel.

Von Karsten Junius, Bank J. Safra Sarasin

Es ist ein Debakel für die ökonomische Zunft. In Studie für Studie wird vorgerechnet, dass Personenfreizügigkeit und freie Märkte wirtschaftliche Vorteile haben: Unternehmen profitieren von der größeren Anzahl an potenziellen Arbeitskräften, eine florierende Wirtschaft erwirtschaftet höhere Steuereinnahmen, Zuwanderer nutzen bessere Arbeitsmarktchancen und zurückbleibende Verwandte profitieren von den Rücküberweisungen. Also eine Win-win-Situation für Auswanderungs- und Zuwanderungsländer. Nur empfindet dies ein großer Teil der Bevölkerung leider so nicht. Dieser möchte die Zuwanderung begrenzen und hat populistischen Kandidaten auch in diesem Jahr einen enormen Zulauf beschert.

Ein Grundproblem ist, dass die Debatte um Freizügigkeit falsch geführt wird. Ökonomen behandeln sie häufig genau wie Freihandel. Kritik an ihr beantworten Ökonomen daher häufig damit, dass die Mobilitäts- oder Globalisierungsgewinne besser umverteilt werden sollten als bislang. Dieses Argument widerspricht klar der ebenso häufig vorgebrachten These, dass die europäischen Sozialsysteme überlastet und nicht nachhaltig sind. Schließlich kann eine stärkere Umverteilung auch nur für die absoluten Einkommenseinbussen von Zuwanderung oder Globalisierung kompensieren. Sie hilft nicht, wenn sich der wirtschaftliche Status im Vergleich zu anderen Gesellschaftsteilen verschlechtert. Nicht zufällig leiten sich aber die meisten Armuts- oder Wohlstandsdefinitionen aus einem Vergleich mit dem Gesellschaftsmedian ab. Politiker, die das realisiert haben, stellen Personenfreizügigkeit daher häufig als Konzession dar, die gemacht werden muss, um den freien Handel von Gütern und Dienstleistungen sowie die Kapitalmobilität des EU-Binnenmarktes realisieren zu können. Tatsächlich vereinfacht Personenfreizügigkeit die anderen drei Freiheiten und eine gemeinsame Geldpolitik. Wenn zu große Bevölkerungsanteile sie aber nur als notwendige Konzession und nicht als Vorteil, Freiheit oder Wert an sich ansehen, sollten Ökonomen darüber diskutieren, ob man sie tatsächlich für die ganze EU braucht. Sie sollten zeigen welche konkreten Vorteile des Binnenmarktes bei einer eingeschränkten Mobilität wegfielen. Ohne diese Diskussion wird manchem Personenfreizügigkeit als eine dogmatische Idee erscheinen von Leuten, die einen europäischen Superstaat über die Nationalstaaten stülpen wollen, der ihre Integrationsfähigkeit überlastet. Letztlich wird die Diskussion jenseits von ökonomischen Effizienzgedanken entschieden werden. Nur wenn ihre Befürworter klar machen können, welche praktischen Vorteile Freizügigkeit im täglichen Leben hat, und auf welche inzwischen vielleicht als Selbstverständlichkeiten empfundene Freiheiten man sonst verzichten würde, kann sie innerhalb Europas überleben. Nur dann wird es nicht zu weiteren EU-Austritten kommen. Dazu bedarf es emotionaler und praktischer Argumente und nicht nur Streben nach maximaler Effizienz.


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