Die Eurozone ist in der Pubertät

KOLUMNE | Nehmen jetzt die Zerfallserscheinungen zu? Jeder der Kinder hat, weiß, dass die Phase der unbeschwerten Kinderzeit mit spätestens 14 vorbei ist und dass spätestens jetzt in der Pubertät Stimmungsschwankungen, Launenhaftigkeit und der Stress mit den Eltern zunehmen.

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Von Robert Halver, Baader Bank

Die Eurozone befindet sich genau im 14. Lebensjahr. Ihre pubertären Anwandlungen sind für jeden ersichtlich, der Online-Portale besucht, Zeitungen liest oder einfach nur in die Flimmerkiste guckt. Die hyperinflationär gebrauchten Begriffe wie „Wertegemeinschaft“, „Stabilitätsunion“ oder „Schicksalsgemeinschaft“ sind Worthülsen, die aber erst dann eine Bedeutung erlangen, wenn sie mit Leben gefüllt werden. Doch das werden sie nicht. Wer in Europa Stabilität oder gute Standortqualitäten sucht, wird eher Instabilität und Reformunfähigkeit finden. Damit stehlen die Politiker den jungen Leuten in Europa Perspektiven. Diese Herrschaften denken „Jeder ist sich selbst der Nächste“. Sie haben zuerst ihre Wiederwahl im Kopf. Welcher Verantwortliche in Europa setzt schon auf Reformen, wenn sie die eigene Abwahl bedeuten? In Italien verspricht Herr Renzi vollmundig zwar immer massive Reformpolitik. Danach passiert aber herzlich wenig. Lieber Herr Renzi, passen Sie auf, dass sie die italienische Kunstfigur Pinocchio nicht persönlich verkörpern. Auch Hollande in Paris ist in puncto Wirtschaftsreformen so unbeweglich wie der Eiffelturm. Und wie sollen sich jetzt Menschen für Europa oder gar die Währungsunion erwärmen, wenn sie mit Europa vor allem Arbeits- und Perspektivlosigkeit verbinden?

Mario Draghi als nützlicher Erfüllungsgehilfe für Euro-Politiker

In Ermangelung einer prosperierenden Privatwirtschaft sind viele Euro-Staaten dann gezwungen – ähnlich wie bei Smarties – mit vielen vielen bunten Staatsschulden konjunkturell dagegen zu halten. Mittlerweile hat man die EZB so weit, dass sie den Schulden-Deckel bezahlt. Ohne sein Eingreifen hätten wir Euro-Bonds, bei denen u.a. ein starkes Deutschland mit seinem guten finanzpolitischen Leumund für andere, bonitätsschwächere Euro-Länder bürgen müsste. Für unser damit erhöhtes Risiko hätten wir dann aber auch einen Zinsrisikoaufschlag bezahlen müssen. Hinter stabilitätsheuchelnd vorgehaltener Hand sind Deutschlands Politiker doch sehr dankbar, dass ihnen die EZB die Kastanien aus dem Feuer holt. Der Kelch der deutschen Staatsanleihen-Versicherung ist so an uns vorüber gegangen. Zusätzlich sind wegen Mario Draghis „segenreichen“ Anleihekäufen die Renditen deutscher Staatstitel so stark gefallen, dass der deutsche Bundeshaushalt die „schwarze Null“ schreiben kann. Hat sich der Bundesfinanzminister eigentlich schon bei Herrn Draghi für seine Deutschland freundliche Geldpolitik bedankt? Denn niemand soll sich in Berlin einbilden, dass die soliden Staatsfinanzen Folge einer famosen Fortsetzung der „Agenda 2010-Politik“ sind. Leider fällt die GroKo hier durch große Passivität auf. Keine Partei will die Wähler verprellen. Dabei hätte die GroKo alle politischen Möglichkeiten, ganz dicke Bretter zu bohren. Doch für ihre Brettchen reicht mühelos eine Laubsäge. In Deutschland wird zu sehr verwaltet und zu wenig angepackt. Warum tut man trotz bester Refinanzierungsmöglichkeiten nicht endlich etwas gegen die marode deutsche Infrastruktur? An dieser Stelle jedoch möchte ich ausdrücklich Spanien für seine in Europa selten gewordene Reformpolitik loben: Spanien wächst in diesem Jahr mit über drei Prozent. Fantastico!

Wehe, wenn der Chorgeist seinen Geist aufgibt

Besonders erbärmlich ist das Bild, das Europa in der Bewältigung der Flüchtlingskrise bietet. Die in der Theorie heiligen Werte und Solidaritätsbekundungen finden von vielen EU-Politikern in der Praxis keine sozialpolitische Anwendung. Das ist nicht nur anti-europäisch, das ist asozial.

Wundert es da insgesamt noch, dass Europa Zersetzungserscheinungen zeigt? Bei der Regionalwahl in Katalonien haben die Anhänger der Unabhängigkeit von Spanien die absolute Mehrheit der Parlamentssitze erobert. Selbst Prominente wie ein bekannter Trainer aus der deutschen Bundesliga zählen zu den Befürwortern. Rein rechtlich mag eine Abspaltung Kataloniens laut spanischer Verfassung und spanischem Verfassungsgerichtsurteil unmöglich sein. Schaut man jedoch in die Geschichtsbücher, fällt auf, dass Volkes Stimme gegenüber dem Recht oft genug die Nase vorn hatte.

Doch damit nicht genug der Sezessionsbestrebungen: Das Große Britannien plant für 2016 eine Abstimmung über die EU-Mitgliedschaft. Noch ist es zu früh, eine Ergebnisprogose abzugeben. Rational gesprochen, hätte ein Dasein der Briten out of Europe sicherlich dramatische Nachteile. Das Land wäre eine Insel der wirtschaftlich Verdammten. Na und? Die Briten ticken anders. Für viele von ihnen ist der Brexit und damit die Genugtuung, nicht mehr zur knubbeligen EU-Verwandtschaft zu gehören, ein Wert an sich. Insbesondere für uns Deutsche „Kontinental-Europäer“ mit unserer in Außenhandelskonkurrenz stehenden Industrie wäre das britische EU-Aus unangenehm. Auch wenn man die englische Küche nicht mag, ist dennoch festzustellen, dass die Insel die Fahne der Marktwirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit stets hochgehalten hat. Ohne David Camerons Briten ist Deutschland so ziemlich allein mit den staatsorientierten Gesundbetern der Rest-EU, die ihre Wirtschaftspolitik immer in einem Satz zusammenfassen können: Die Staatsfinanzierung deckt die EZB.

Und was machen wir erst, wenn Marine Le Pen – die selbsternannte Anti-Europa-Jeanne d’Arc – 2017 bei den französischen Präsidentschaftswahlen unverhofft gewinnt. Wenn das so passiert, ist mit Deutschlands Brudervolk Frankreich kein Euro-Staat mehr zu machen. Und was wird dann aus dem deutsch-französischen Motor? Der ist dann selbst zu schwach, um auch nur ein Salatblatt vom Teller zu ziehen, geschweige denn Europa voranzubringen.

An der Finanzkrise wird Europa nicht scheitern, aber…

Vorerst wird die EU oder die Eurozone nicht an einer Finanzkrise, konkret einer Staatsschuldenkrise scheitern, solange Schuldenmacherei mit geldpolitischer Gegenfinanzierung betrieben wird. Auch Griechenland wird mit der Soft-Version von Hartz IV, nämlich „Nicht fordern und dennoch fördern“, einstweilen bei finanzpolitischer Laune gehalten. Längerfristig sind wir damit allerdings definitiv – um es mit AC/DC zu sagen – auf dem „Highway to Hell“.

Was aber Europa den Hals schneller kosten könnte, sind politische bzw. sozialpolitische Missstände. Wenn der EU-Verein weiter nicht durch harmonische Lösungen, sondern durch gegenseitiges Hauen und Stechen auffällt oder wenn seine Bürger und vor allem Jugendlichen weiter durch wirtschaftspolitisch unverantwortliches Nichtstun desillusioniert werden und daher der Wunsch nach Renationalisierung immer stärker aufkommt, ist Europa in seiner Existenz gefährdet. Dann kann auch Draghi nicht mehr dagegen halten. Trotz geldpolitischer Brechstange fällt es ihm ja schon schwer, Inflation zu erzeugen.

Im Extremfall wird Europa sogar zum sterbenden Kontinent. Unternehmen werden sich nicht lange grämen. Denn sie sind mobil wie muntere Rehlein. Sie werden die EU-Reformwüste so schnell wie möglich Richtung Amerika und Asien verlassen. Denn dort ist man reformfähig und legt Europas Top-Unternehmen und den Patentträgern gerne den roten Teppich aus. Was das für Europas Aktienmärkte bedeutet, ist klar. Wenn die Unternehmen wie Adler wegfliegen, werden die Aktien wie Hühner auf dem Boden scharren.

Europa sollte endlich begriffen haben, das die Stunde geschlagen hat. Ansonsten wird es zwischen den USA, China und Russland zerrieben wie von einer Käsereibe. Pubertäre Anwandlungen sind nicht schlimm. Sie gehören zur Weiterentwicklung auch der Eurozone dazu. Allerdings sollten sie politisch beherrschbar bleiben. Liebe EU-Schönwetter-Politiker, ich bin Eure Lethargie satt! Werft Eure Schlaftabletten weg und nehmt endlich Aufputschmittel. Ansonsten droht Europa nur noch eine geographische Größe zu sein.

Robert Halver leitet die Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank. Mit Wertpapieranalyse und Anlagestrategien beschäftigt er sich seit 1990. Er ist durch regelmäßige Medienauftritte im Fernsehen, auf Fachveranstaltungen sowie durch Publikationen und als Kolumnist bekannt. Sein Markenzeichen, der rheinische Humor und die unterhaltsame, bildhafte Sprache, kommen bei keinem seiner Auftritte zu kurz. Siehe auch 7 Fragen an Robert Halver.


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Foto: Baader Bank

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