D-Day am 23. Juni – Der Brexit als Anfang vom Ende von EU und Euro?

GASTKOLUMNE

GASTKOLUMNE | Vor einem Jahr war der Grexit keine reine Utopie mehr. Damals ging sogar die Angst um, dass nach einem griechischen Exodus schnell auch weitere Länder wie Zypern oder Portugal leise Servus zur Währungsunion sagen könnten. Denn Griechenland würde ihnen durch Wiedereinführung der Drachme im Tourismus und beim Verkauf von Südfrüchten über Währungsabwertungen erhebliche Konkurrenz bereiten. Doch mit unnachahmlicher Stabilitätsrechts-Beugung durch EU, EZB und IWF konnte Griechenland gerade noch so im Euro-Clan gehalten werden. Doch viel schlimmer als ein Grexit wäre der Brexit.

robert-halver-baader-bank-gastkolumne Von Robert Halver, Baader Bank

Es ist schon frevelhaft und vertrauenszersetzend genug, überhaupt zu überlegen, die EU-Familie zu verlassen. Seit Gründung der EU kannte man bislang nur die Familienaufnahme, nicht die Familienaufgabe. Und wenn jetzt sogar ein großes Familienmitglied Good Bye sagen sollte, kommt damit auch ein eindeutig negatives Qualitätsurteil über die Familie selbst zum Vorschein. Die europäische Wertegemeinschaft würde deutlich an Wert verlieren.

Außerhalb des Schoßes der EU-Familie wird es Großbritannien dreckig gehen
Dabei haben die Briten trotz einer prekären Beziehung zur EU, die dem manchmal schwierigen Verhältnis zwischen Schwiegermutter und Schwiegersohn ähnelt, bei einem Brexit Einiges zu verlieren: All ihre Handelsverträge mit der EU werden in einem schmutzigen Scheidungskrieg innerhalb von zwei Jahren völlig gekappt und müssen neuverhandelt werden. Und wie die Erfahrungen mit Norwegen oder auch der Schweiz gezeigt haben, werden Neuverhandlungen deutlich länger als zwei Jahre benötigen. So mancher EU-Politiker wird sein Mütchen kühlen wollen und die Exit-Briten schmoren lassen wie frühere Strafgefangene im Tower of London. Ohnehin wird man den Briten außerhalb der EU keinen gleichwertigen, geschweige denn besseren Deal als innerhalb der europäischen Familie anbieten. Ansonsten könnten nach Onkel Cameron noch andere Familienmitglieder auf dumme Gedanken kommen.

Überhaupt, welcher Handelspartner will denn offensiv Handelsgeschäfte mit Briten oder EU-Geschäftsleuten machen, wenn die neue rechtliche Basis dafür noch unklar ist. Das wäre doch wie der Kauf einer Wundertüte, dessen Inhalt man nicht kennt. Im Zweifelsfall macht man weniger oder gar keine Geschäfte. Beide Seiten werden sich mit Investitionen zurückhalten. Und wenn das hundertausendfach passiert, ist damit natürlich auch ein volkswirtschaftlicher Reibungsverlust verbunden. Allerdings würde Großbritannien noch heftiger getroffen als die Rest-EU.

Wirtschaftlich wird es den Exit-Briten – Sozialhilfeempfängern, Krankenversicherten, Beschäftigten, Unternehmen, Rentnern – definitiv schlechter gehen. Von der EU als größtem Wirtschaftsraum der Welt ist man dann geographisch auf den Ärmelkanal bezogen zwar nur 28 Kilometer entfernt, aber handelspolitisch so weit weg wie vom Mars. Man ist von den üppigen Futtertrögen abgekoppelt. Das wird auch die britischen Finanzmärkte nicht kalt lassen. Der britische Aktienindex Footsie könnte zum Futzi-Index werden und mit dem britischen Pfund wäre kein Wuchern mehr möglich.

Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben, aber die Suche danach sehr schwierig
Die „EU-befreiten Briten“ werden, nachdem sie ihre „splendid isolation“, ihre Insellage, erreicht haben, versuchen, eigene wirtschaftspolitische Standbeine aufzubauen. Man wird das Commonwealth of Nations als Nachfolger des British Empire aufwerten wollen. Doch dieser lockere Zusammenschluss unabhängiger Staaten wird die EU nicht annähernd ersetzen, zumal ihre gut 50 Staaten eigene Interessen vertreten, die ausgerechnet auch darin bestehen, mit der EU Geschäfte zu machen. Sicherlich wird Großbritannien alles daran setzen, eine Kurswende bei der Regulierung seines Finanzplatzes durchzuführen. Mit Deregulierung will man die guten alten Finanz-Zeiten wiederbeleben und eine attraktive Alternative zu den Finanzplätzen auf dem Kontinent bieten. Doch auch dieser Prozess wird seine Zeit brauchen, wenn er mit Blick auf eine global eingezäunte Finanzindustrie überhaupt Erfolg verspricht. Teile der Londoner Finanzindustrie könnten sich in der Zwischenzeit sogar veranlasst sehen, der Londoner City mit Verlagerung ihrer Geschäfte nach Dublin, Frankfurt oder Luxemburg fremdzugehen. Selbst die Beziehungsintensivierung mit dem angelsächsischen Blutsbruder Amerika wird schwierig. Polit-Amerika könnte sogar richtig sauer auf seinen europäischen Lieblingspartner werden, der ihnen nach Brexit eine weitere geostrategische Baustelle, diesmal in Europa beschert.

Wissen die Briten noch, was sie tun?
Scheiden tut also richtig weh. Sind die Briten masochistisch veranlagt? Eigentlich gelten sie doch als vernünftig, rational und sind nicht für Schnellschüsse aus der Hüfte bekannt. Haben wir es etwa mit einem neuen Virus zu tun, der Lust am wirtschaftlichen Untergang erzeugt?

Tatsächlich lassen die aktuellen Umfragen eine knappe Mehrheit für den Brexit erwarten. Doch muss man die Umfragemethoden vielfach als technisch prekär bezeichnen. Die Londoner Buchmacher und Wettbüros sehen eine klare Mehrheit für Bremain. Übrigens lagen die Buchmacher bei der letzten britischen Parlamentswahl mit der Wiederwahl von Cameron und dem Verbleib Schottlands im Vereinigten Königreich richtig. Dennoch ist festzustellen, dass sich das Lager der Austrittbefürworter seit etwa zwei Wochen merklich vergrößert hat.

Die kontinentaleuropäischen Befürchtungen, dass der Brexit für die Insel massive Folgeschäden hat, zweifeln auch viele Briten im Gegensatz zum ehemaligen Londoner Bürgermeister Boris Johnson nicht an. Doch er – der in einer Talentshow als Double von Donald Trump auftreten könnte – verfolgt eigene Interessen. Nach einem Brexit könnte er David Cameron politisch beerben.

Nach Brexit ist sogar Großbritannien selbst in seiner Existenz gefährdet. Denn die Schotten wollen in der EU bleiben. Sie könnten nach dem Brexit ein erneutes Referendum planen, dass dann erfolgreicher als das erste aus Great nur noch Little Britain macht.

Und warum denken vor allem die Engländer trotzdem an Brexit? „I’m fed up to the back teeth“ hört man oft genug insbesondere von englischen Zeitgenossen. Man habe „Die Schnauze von Europa voll“. Nachgefragt, was denn konkret stört, hört man als Antwort, dass Europa in Form der EU nicht funktioniere, zum Beispiel in puncto Einwanderung und Terrorbekämpfung, weil ein grenzüberschreitender Datentransfer fehlt. Dazu kommt, dass die EU keinen gemeinsamen Außenauftritt angesichts der globalen Konflikte und Krisen hinbekommt. Außerdem befürchten sie, dass die EU dem „Sozialismus“ verfällt, der seit dem 19. Jahrhundert das britische Unwort schlechthin ist. Man bewege sich hin zur Schuldenmacherei mit Bezahlung durch die Notenbank und weg von Marktwirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit.

Und natürlich ist da noch die Furcht vor Deutschland, das aufgrund seiner wirtschaftlichen Stärke die EU dominieren könnte und so den Briten ein deutsches Diktat aufzwingt.

Manche deutsche Politiker haben das diplomatische Geschick einer Tiefkühltruhe
Angesichts der diffusen Ängste der Briten ist derzeit leider nicht jeder deutsche Politiker mit Fingerspitzengefühl ausgestattet. Vor der Brexit-Abstimmung am 23. Juni ist es kontraproduktiv, den Briten jetzt Verbalohrfeigen zu verpassen, indem man ihnen selbstgerecht droht, wenn das Königreich für den Austritt stimme, sei auch der Zugang zum Binnenmarkt passé: „In ist in, out ist out“.

Vielleicht konnte man die Griechen in Kreditverhandlungen mit harter Rhetorik beeindrucken. Briten sind aber ein ganz anderes Kaliber. Die sind davon not amused. So schüttet man noch Brandbeschleuniger in das bereits lodernde Feuer der Austrittbefürworter. Damit schürt man die eingebildete Angst vieler Briten vor der deutschen Allmacht und dem britischen Souveränitätsverlust, was die britische Kampfpresse polemisch auszunutzen versteht.

Im Augenblick wäre schon dass vorzeitige Ausscheiden des englischen Fußballteams bei der EM in der Vorrunde Brexit-förderlich. Daher sollten vor allem deutsche Politiker einfach mal die Klappe halten.

Denn wenn du gehst, dann geht auch ein Teil von mir
Natürlich darf man den Briten nicht alles durchgehen lassen. Die Mitgliedschaft in der EU ist keine Mitgliedschaft wie bei einem Wohlfahrtsverein, wo man möglichst viel entnimmt und wenig gibt. Der Britenrabatt bei der EU-Vereinsgebühr ist gelinde gesagt eine Unverschämtheit. Es geht um das lateinische Sprichwort „manus manum lavat“: Eine Hand wäscht die andere, Leistung und Gegenleistung.

Wahr ist aber auch, dass Deutschland in der EU am meisten verliert, wenn die Briten gehen. Trotz vorhandener „Nickeligkeiten“ zwischen Briten und Deutschen verbindet uns viel. Beide Länder stehen für Europäische Stabilitätsunion, nicht für Romanische Schuldenunion, die nur von Geldpolitiks Gnaden zusammengehalten wird wie von Pattex. Ohne die Briten wird es für Deutschland allein noch schwieriger sein, den stabilitätslosen und investitionsfeindlichen Hühnerhaufen der EU marktwirtschaftlich zu beeinflussen. Dann sind wir der „Last Man Standing“. Und für den deutschen Export nach Großbritannien ist ein Brexit mit unklaren handelsrechtlichen Bedingungen auch kein Grund „Hurra“ zu schreien.

Für die EU ist es bedeutend, einen deutsch-französischen Motor zu haben. Aber der deutsch-britische ist auch wichtig. Dieser hat dafür zu sorgen, dass über nationalbetreffende Angelegenheiten auch nur national entschieden wird und nur die europäisch relevanten Fragen auf Brüsseler Ebene zur Abstimmung kommen. Die deutsch-britische Achse hat nicht die Aufgabe, möglichst vielen EU-Bürokraten auskömmliche Einkommen zu bescheren. Jetzt auszutreten, wäre Feigheit vor dem Brüsseler Bürokratismus und seiner Reformfeindlichkeit.

Und im großen geostrategischen Möbelhaus wird die EU ohne die großen Briten als Militärmacht und ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat schnell auf die Abteilung Mitnahmemöbel degradiert.

The days after Brexit – Was passiert beim Brexit kurzfristig an den Finanzmärkten…
Wenn die Briten sich tatsächlich für den Ausstieg entscheiden, wird das die Finanzmärkte irritieren, der Euro könnte deutlich schwächer werden. Allerdings haben die Märkte ja auch schon Einiges abgegeben, dort wird der Brexit-Blues bereits gespielt. Die Rendite 10-jähriger deutscher Staatspapiere als Aushängeschild auf dem europäischen Rentenmarkt ist unter null gefallen und Gold steigt. Die Notenbanken werden zur Not Gegenmaßnahmen ergreifen, so dass sich die Märkte zwischenzeitlich wieder erholen können, zumal der Trennungsprozess über zwei Jahre läuft. Es werden ja nicht am 24. Juni alle Wirtschaftsbeziehungen zu Großbritannien sozusagen auf einen Schlag platt gemacht. Und ein schwächerer Euro könnte sogar für Exportphantasie in Deutschland sorgen.

…und langfristig?
Es geht aber um die fatalen langfristigen Kollateralschäden eines Brexit. Er wäre das Gift, dass langsam wirkt und an dessen Ende die Eurosklerose steht. Ist erst einmal der Bann des ersten Austritts gebrochen, könnte die Austreteritis streuen. Man hätte mit dem Brexit ein politisches Vorbild, vielleicht sogar ein Wahlkampfmaskottchen zum Beispiel im französischen Präsidentschaftswahlkampf 2017 geschaffen. Die Frage des Frexit käme schnell auf die politische Agenda. Und die EU und der Euro könnten auch in anderen Staaten als Sündenböcke für alles wirtschaftlich und sozialpolitisch Negative herhalten, die man insofern doch am liebsten verlassen sollte. Vor jeder Parlamentswahl würde die politische Unsicherheit zunehmen.

Nach einem tatsächlichen Brexit könnte eine schlechter werdende (wirtschafts-)politische EU-Stimmung Investoren und Konsumenten veranlassen, ihr Portemonnaie zuzunageln und zunächst einmal abzuwarten. Und Abwarten ist das Schlimmste, was man einer Konjunktur antun kann. Warten fördert Deflation und damit noch weitere Zurückhaltung beim Geld ausgeben. Die EU würde als Investitionsstandort immer unattraktiver. Die Investitionswelt ist groß und bunt und das internationale Kapital so beweglich wie junge Hunde. Auf Europa als Industriemuseum hat niemand gewartet.

Die im wahren und übertragenen Sinne kleine Union EU könnte langfristig zum Spielball in der geostrategischen Welt werden. Im Extremfall werden wir zwischen den Großmächten wie USA oder China politisch zerrieben wie italienischer Parmesan in einer deutschen Käsereibe. Europa würde zum Operettenstaat.

Und warum sollten bei beginnender Eurosklerose die europäischen Aktienmärkte ihre bislang schon gezeigte Kurszurückhaltung aufgeben? Längerfristig wäre ein Brexit ein Horrorszenario für die Märkte.

Sollten die Briten sich allerdings für den Verbleib in der EU entscheiden, gehen vor allem die Aktienmärkte durch die Decke.
Liebe Briten, bleibt bitte bei uns. Ansonsten verfängt sich der EU-Karren in den Brüsseler Spitzen.


Robert Halver leitet die Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank. Mit Wertpapieranalyse und Anlagestrategien beschäftigt er sich seit 1990. Er ist durch regelmäßige Medienauftritte im Fernsehen, auf Fachveranstaltungen sowie durch Publikationen und als Kolumnist bekannt. Sein Markenzeichen, der rheinische Humor und die unterhaltsame, bildhafte Sprache, kommen bei keinem seiner Auftritte zu kurz. Siehe auch 7 Fragen an Robert Halver.

Über mögliche Interessenkonflikte und rechtliche Hinweise informieren Sie sich bitte im Disclaimer der Baader Bank. Die Meinung des Gastautors muss nicht unbedingt mit der Meinung der Redaktion übereinstimmen.

Foto: Baader Bank

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*