Wenn der Juni überstanden ist, sind die Damokles-Schwerter für Aktien stumpf geworden

GASTKOLUMNE

GASTKOLUMNE | Eine weitere Leitzinssteigerung in den USA halte ich zwar weltkonjunkturell immer noch für so überflüssig wie ein Kropf. Dennoch kann ich mich mittlerweile für eine sanftmütige Zinserhöhung erwärmen.

robert-halver-baader-bank-gastkolumne Von Robert Halver, Baader Bank

Denn die seit Amtsantritt von Janet Yellen permanente, widersprüchliche und kakophonische Schaukel-Rhetorik, ob, wann, unter welchen Bedingungen und um wie viel die US-Notenbank Fed ihre Leitzinsen erhöht, ist für Anleger ungefähr so reizvoll wie alte Brötchen in der Bäckerei kurz vor Ladenschluss. Ich will ja nicht behaupten, dass Frau Yellens Job als Fed-Präsidentin einfach ist, zumal sie gezwungen ist, Geldpolitik für Amerika (urbi) und die Welt (orbi) zu machen. Aber ihr unschlüssiges Zins-Spiel ohne Ball sorgt für Unsicherheit an den Finanzmärkten, wo Klarheit, Transparenz und Glaubwürdigkeit der Fed – sie ist nun einmal die Mutter aller Notenbanken – dringend gefordert sind.

Genau dafür war sie übrigens einmal bekannt. Dafür habe ich sie lange Zeit „Mutti der Finanzmärkte“ genannt. Doch mit ihrer zittrigen Zinspolitik ist sie mehr und mehr zu deren „Rabenmutter“ mutiert.

Fakten, Fakten, Fakten und an die Anlegerinnen und Anleger denken!
Zinspolitisch muss Frau Yellen zwei Dinge tun. Erstens, die Zins-Katze muss endlich aus dem Sack. Mit einer Leitzinserhöhung auf der Fed-Sitzung am 27. Juli 2016 – auf eine Erhöhung am 15. Juni sollte sie mit Blick auf die unsichere Brexit-Abstimmung am 23. Juni verzichten – befreite sie die Finanzmärkte endlich von der Last der geldpolitischen Ungewissheit.

Auf keinen Fall darf die Fed den Zinstermin im Juli schon wieder verstreichen lassen, weil vielleicht zwischenzeitlich der Kaugummiumsatz im nördlichen Teil vom südlichen Minnesota stagniert. Dann befänden wir uns weiter in der Ungewissheit des zinspolitischen Niemandslands.

Zweitens, nachdem die Fed die Leitzinsen erhöht hat, muss sie sehr deutlich machen, dass sie anschließend weitere Zinsrestriktionen – wenn überhaupt – nur ähnlich schüchtern vornimmt wie der junge Mann, der bei den künftigen Schwiegereltern um die Hand der Tochter anhält. Die globalen Wirtschafts- und Inflationsdaten sprechen ohnehin nicht dafür. Dann würden die Finanzmärkte im Vergleich zu früheren Zinserhöhungszyklen, die an Zahnwurzelbehandlungen erinnerten, mit einer fast schmerzfreien Zahnreinigung davon kommen.

Wasch mir den Zins-Pelz, aber mach mich nicht nass
Unter diesen zwei Bedingungen wird der Zins-Troll die Aktienmärkte in Ruhe lassen. Vor der Europäischen Zentralbank (EZB) muss ohnehin niemand Angst haben. Die lockerste Geldpolitik seit Europa Notenbanken kennt, ist für die europäischen Aktienmärkte zwar kein Selbstläufer mehr, aber immerhin eine Sorgenpause. Ich glaube auch nicht an restriktive Kehrtwende der EZB anlässlich ihrer Sitzung im Juni. Im Gegenteil, nach Staats- wird die EZB auch Unternehmensanleihen aufkaufen. Über dieses neue Husarenstück von Mario Draghi muss man sich stabilitätspolitisch völlig zu Recht grämen. Dennoch erwarte ich nicht, dass das deutsche Bundesverfassungsgericht am 21. Juni das Anleiheaufkaufprogramm der EZB für unrechtmäßig erklärt oder sogar der Bundesbank verbietet, an diesem Programm teilzunehmen. Denn die Richter in roten Roben wissen um die ansonsten bestehenden Banken- und Staatsschuldenrisiken, aber auch um die sozialen Probleme in der Eurozone. Insgesamt bleibt Zinsvermögen gegenüber Aktien unterbelichtet.

Schicksals-Tertial Mai bis August weniger schicksalhaft als gedacht
Robust sind die Aktienmärkte jetzt schon: In den USA fehlt dem Dow Jones bis zum Allzeithoch nicht mehr viel. In den USA halten Publikums- und Pensionsfonds eine rekordverdächtig hohe Liquidität von zirka einer Billion US-Dollar. Da sich Liquidität als Anlageklasse selbst nach einer US-Zinserhöhung schlecht verzinst, wird im Rahmen des Anlagenotstands auch der Blick auf Aktien fallen.

Und beim deutschen Leitindex Dax verhindern nur die fünf Outlaws RWE, E.On, VW und die zwei Banken, dass der Dax nicht weit oberhalb von 11.000 Punkten steht. Tatsächlich war am Aschermittwoch 2016 für deutsche Aktien alles vorbei, aber im positiven Sinne. Ungefähr an diesem Tag hatte der Dax seinen Jahrestiefstand. Danach ist die Angst vor einer harten Landung Chinas ebenso gewichen wie die Gefahr einer nachhaltigen Apokalypse bei Rohstoffen, die den Rohstoffländern Staatshaushalte und Binnenkonjunkturen und der westlichen Welt die Exportmärkte ruiniert hätte. Die Opec wird im Juni wieder mehr gesunden Menschenverstand walten lassen und nicht weiter am Ast sägen, auf dem sie sitzt. Von ihrem preisdrückenden Ölförderkonzept der Marke „Freibier für alle“ wird sie sich zunehmend verabschieden. Der Horror einer lang andauernden weltkonjunkturellen Fastenzeit wird sich nicht bewahrheiten.

Fundamental kommt noch mehr Fleisch an den Knochen der Liquiditätshausse. Die wenn auch nur sanfte Zinserhöhungsphantasie hilft dem Dollar auf die Sprünge und hinterlässt umgekehrt bei deutschen Exportfirmen den zuckersüßen Geschmack eines schwächeren Euros. Und selbst die Berichtsaison für das erste Quartal 2016 entpuppte sich für Dax-Unternehmen nicht als so grausam wie zunächst befürchtet. Insgesamt mussten sie lediglich sieben Prozent weniger Umsatz und nur fünf Prozent weniger Gewinn verkraften. Da hat es andere europäische Indices härter getroffen.

Und was ist mit der Bewertung? Mit einem durchschnittlichen Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von etwa 12 ist der Dax zwar absolut nicht billig, im Vergleich zu anderen Leitindizes in den USA oder Asien jedoch deutlich günstiger. Dank der geldpolitischen Happy Hour leben wir grundsätzlich nicht mehr im Zeitalter von Schnäppchenpreisen. Und wenn deutsche Staatspapiere im Durchschnitt mit einem KGV von etwa 1.500 bewertet sind, ist sofort klar, was relativ wirklich überteuert ist.

Überhaupt, warum sollte jetzt im zweiten Tertial 2016 – Mai, Juni, Juli, August – schlechte Aktienstimmung aufkommen? Nach den Verlusten zu Jahresbeginn fehlt mangels Gewinnmasse Potenzial für Aktienverkäufe. Für längerfristig orientierte Aktienanleger ist jetzt eher eine gute Zeit, Positionen in Marktschwächen aufzubauen.

Sollte auch noch der Brexit im Juni ausbleiben, gibt es keinen Grund mehr für schlechte Aktienstimmung
Längerfristig bleibt uns das Thema der politischen Eurosklerose zwar erhalten. Es ärgert mich zudem, dass die auch infrastrukturelle Reformverweigerung in Berlin dazu führt, dass sich Deutschland nicht mehr unter den Top 10 der wettbewerbsfähigsten Länder befindet. Ein Armutszeugnis! Sind wir weiterhin so reformunbeweglich wie Eisenbahnschwellen, wird das unseren Wirtschaftsstandort zukünftig sicherlich schwächen. Deutschland ist wirtschaftlich zu groß, um reformpolitisch klein zu sein. Aber ein unmittelbarer Kollateralschaden bleibt deutschen Aktienanlegern zumindest vorerst erspart.

Für Risikoentspannung sorgt nicht zuletzt der Blick auf die Verfassung der Aktienmärkte selbst. Der VDax Volatilitätsindex, der die mögliche Schwankungsbreite für die nächsten 30 Handelstage misst, liegt – trotz vieler vermeintlicher Risiken – mit einem aktuellen Wert von gut 20 auf vergleichsweise sehr unterdurchschnittlichem Niveau. Wenn so Aktienkrise aussieht, bin ich ein Freund der Krise.

Ja, der Juni bietet durchaus Unsicherheitspotenzial. Aber auch dieser Monat wird vergehen. Am Jahresende sind Dax-Indexstände auch über 11.000 Punkten möglich.


Robert Halver leitet die Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank. Mit Wertpapieranalyse und Anlagestrategien beschäftigt er sich seit 1990. Er ist durch regelmäßige Medienauftritte im Fernsehen, auf Fachveranstaltungen sowie durch Publikationen und als Kolumnist bekannt. Sein Markenzeichen, der rheinische Humor und die unterhaltsame, bildhafte Sprache, kommen bei keinem seiner Auftritte zu kurz. Siehe auch 7 Fragen an Robert Halver.

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Foto: Baader Bank

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