Otmar Lang: »Wird Draghi zum Getriebenen?«

GASTKOMMENTAR

GASTKOMMENTAR | Ein aktueller Marktkommentar zur jüngsten EZB-Zinsentscheidung von Dr. Otmar Lang, Chefvolkswirt der Targobank.

Von Otmar Lang, Targobank

Die heutige Entscheidung der EZB, den Leitzins unverändert zu belassen, überrascht nicht. Denn dass Mario Draghi so kurz vor der Stichwahl in Frankreich seinen lockeren geldpolitischen Kurs ändern würde, war unwahrscheinlich.

Doch im Kessel brodelt es: Zum einen haben sich die Stimmungsindikatoren für die Eurozone seit der letzten EZB-Zinssitzung entgegen den Erwartungen weiter klar verbessert – sie signalisieren für die Eurozone inzwischen immerhin ein Wirtschaftswachstum von drei Prozent. Zum anderen haben sich einige der geopolitischen Risiken, die die Konjunkturentwicklung lähmen könnten, abgeschwächt: Die USA sind auf Annäherungskurs – China ist zumindest in Donald Trumps Augen doch kein Währungsmanipulator mehr. Auch das Thema Handelsprotektionismus scheint entschärft. Die Stichwahl um das französische Präsidentenamt am übernächsten Sonntag birgt nur noch wenig Bedrohungspotenzial. Für Nervosität sorgt allenfalls die Situation in Nordkorea.

Vor diesem Hintergrund dürfte es Draghi immer schwerer fallen, die Falken im EZB-Rat – also diejenigen Mitglieder, die eher eine restriktive Geldpolitik befürworten – ruhig zu halten. Seine Argumente gegen einen geldpolitischen Richtungsschwenk sind vor allem die Gefahr eines stärkeren Euro und schneller als erwartet steigende Renditen an den Rentenmärkten. Schon die Erleichterungs-Rallye an den Devisenmärkten sowie die Kursrückgänge an den Rentenmärkten nach der ersten Abstimmung zur französischen Präsidentschaftswahl gaben der EZB einen Vorgeschmack darauf, was ein Schritt in Richtung Zinsnormalisierung für die Märkte bedeuten würde.

Und doch: Die Wahrscheinlichkeit, dass die europäischen Währungshüter eher früher als später wieder eine härtere geldpolitische Gangart einlegen, ist gestiegen. Diesen Geist bekommt Draghi wahrscheinlich nicht mehr in die Flasche zurück. Möglicherweise treiben fortan die Märkte die EZB und nicht mehr umgekehrt.

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