Können aus den mutlosen EU-Verwaltern von gestern wirklich mutige EU-Visionäre von morgen werden?

GASTKOLUMNE

GASTKOLUMNE | Sie haben es getan, die Briten werden die EU verlassen. Die britischen Finanzmärkte bewerten diese Entscheidung in ihrer einzigartig nüchternen und kalten Art: Sie brechen ein. Der Aktienkurs eines Landes ist seine Währung. Mit dem britischen Pfund lässt sich nicht mehr wuchern. Wirtschaftlich wird es den Briten in der nächsten Zeit nicht gut gehen, nein, es wird ihnen dreckig gehen. Die Briten haben ihren eigenen wirtschaftlichen Untergang gewählt.

robert-halver-baader-bank-gastkolumne Von Robert Halver, Baader Bank

Die Handelsbeziehungen zum größten Binnenmarkt der Welt, der EU, werden in den nächsten zwei Jahren gekappt. Export und Import werden schon früher aufgrund unklarer handelsrechtlicher Bedingungen leiden. Niemand kann behaupten, dass das an der britischen Volkswirtschaft spurlos vorübergeht. Die Kampagnenführer der Brexit-Bewegung mit ihren Lügen und Brexit-Beschönigungen werden noch verflucht.

Nicht zuletzt wird London als das vielleicht bedeutendste Finanzzentrum der Welt leiden, dass seit Jahrhunderten den Handel zwischen Europa und der Welt finanziert hat. Selbst die britische Angstwährung, der Euro, wird mehrheitlich in London gehandelt.

Nach dem Brexit wird sich das ändern. Der Einstieg in den EU-Ausstieg wird London zwar nicht finanzwirtschaftlich kastrieren, aber deutlich finanzwirtschaftliche Potenz kosten. Londons Finanzkraft liegt ausgerechnet in der Nutzung des EU-Finanzpasses, der es nur Banken in einem EU-Land erlaubt, in der gesamten EU Finanzgeschäfte anzubieten. Der Finanzplatz London ist gerade deshalb für amerikanische und asiatische Banken so attraktiv: Mehr als ein Drittel des europäischen Großkundengeschäfts wird über Großbritannien abgewickelt. Nach Brexit könnte sich die Finanzindustrie gezwungen sehen, nach Dublin, Luxemburg oder Frankfurt auszuweichen. Frankfurt hätte Chancen, aus dem bisherigen Schatten Londons zumindest etwas herauszutreten. Es könnte auch die Börsenfusion zwischen Frankfurt und London beeinflussen. An dieser wird zwar festgehalten, aber der Verwaltungssitz könnte dann doch Frankfurt werden.

Scheiden tut weh, insbesondere Großbritannien
Die EU wird jetzt den Teufel tun und den Briten entgegenkommen, ihnen einen Deal anbieten, der ihnen auch nur im Entferntesten die jetzigen Vorteile gewährt. Das wäre eine eindeutige Einladung an andere EU-Länder ebenfalls auszusteigen und dann auch noch dafür belohnt zu werden.

Im Übrigen dürften die Schotten, die gerne in der EU geblieben wären, mittelfristig ein erneutes Referendum über die Abspaltung von Großbritannien einleiten, das dann erfolgreich verlaufen könnte. Aus Great würde Little Britain, ein Land, für das dann nicht mehr gilt: Rule Britannia, sondern Ruled by Europe. Die Rest-Briten hätten sich politisch selbst entmannt.

Im Grunde genommen ist der Brexit nur das Symptom, nicht die Ursache des europäischen Familienproblems
Und die Rest-EU? Zunächst wird sie zwar nicht so wirtschaftlich leiden wie Großbritannien, aber leiden wird sie dennoch, insbesondere die deutsche Exportindustrie, die intensiv mit der zweitgrößten Volkswirtschaft der EU Handel betrieben hat.

Viel bedeutsamer ist aber die politische Dimension des britischen Ausstiegs. Einen Austritt aus der EU gab es noch nie, zumal keinen Austritt eines großen Landes. Jetzt gibt es eine Inflation an Unsicherheiten und Risiken, für die es keine Musterlösung aus dem Polit-Lehrbuch gibt. Die schon bestehenden eurosklerotischen Fliehkräfte können jetzt noch größer werden. Populistische Kräfte überall in Europa wittern jetzt ihre Chance. Den Brexit wollen sie wie Hefe für ihre Zwecke nutzen. Weitere nationale Referenden zur „Befreiung“ von EU, aber auch Euro – denen man als Schuldigen alles sozial- und wirtschaftspolitisch Schlechte in die Schuhe schiebt – sind jetzt möglich. In Griechenland, Portugal, Spanien, Italien oder Frankreich fällt es verständlicherweise schwer, sich für die europäische Idee zu erwärmen, wenn man arbeitslos ist.

Wir haben es mit einem Brüsseler Paradox zu tun. Am Beispiel der Briten zeigt sich, dass sich viele Menschen zwar von der EU abwenden, da man ihr keine nachhaltigen Lösungen zutraut. Aber um die großen globalen und geostrategischen Krisen – Immigration, Schutz der EU-Außengrenzen, Terrorabwehr, Wirtschaftspolitik, Finanzpolitik et cetera – zu lösen, braucht die EU mehr Gemeinsamkeit und mehr Vertrauen bei Bürgern und nationalen Politikern. Stattdessen werden nationale Süppchen gekocht. Der Zeitgeist hat sich gegen Europa und gegen den Euro gerichtet.

Doch ausgerechnet der britische Exodus bietet als letzter Weckruf eine Chance, das politische Ruder herumzureißen. Die Brüsseler Kommission muss aus ihrer operettenhaften Lässigkeit im Umgang mit Problemen herauskommen. Daran haben auch die nationalen Regierungschefs große Schuld. Denn weder Deutschland noch Frankreich noch andere größere EU-Staaten wollen noch mehr Kompetenzen abgeben. Doch so kann die EU nicht aus ihrer Kungelei in Hinterzimmern entfliehen. Jetzt zu behaupten, die EU wäre doch toll, man hätte es den EU-Bürgern nur noch nicht vermitteln können, ist dümmlich. Das habe ich das letzte Mal in der DDR gehört. Europa braucht vorlaute Politiker. Europa braucht Leute wie Strauß, Wehner oder Schmidt, keine Duckmäuser, die sich von Krise zu Krise durchmogeln und Brüssel als ihren Altersruhesitz ansehen, wo man noch mal richtig Geld verdienen kann.

Die Brexit-Lektion lautet: Integration und nationale Entscheidungen dort, wo sie hingehören
Mit der Idee eines europäischen Einheitsstaates ist die EU nicht mehr zu retten. Dieser Zug ist abgefahren. Es geht jetzt um flexible Zusammenarbeit und Pragmatismus. Nicht jedes EU-Land muss über alles mitbestimmen. Es geht auch um Mehrheitsentscheidungen, keine Einstimmigkeit. So hält man Quertreiber und Nörgler draußen. Man muss mehr Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedsländern zulassen. Nationale Angelegenheiten müssen auch national geklärt werden. Und nur supranationale Aspekte wie die Verhandlung zum Beispiel eines Freihandelsabkommens mit den USA müssen EU-zentral gesteuert werden.

Die EU muss auch mehr Marktwirtschaft zulassen. Wie die Banane gekrümmt sein muss, wie die Kartoffel auszusehen hat oder welche Farbe Äpfel haben, müssen keine planwirtschaftlich denkenden Eurokraten festlegen, sondern ganz allein die Käufer.

Wird das Ruder nicht herumgeworfen, findet der Brexit Nachahmer und dann ist auch der Euroraum in Gefahr
Die EU muss also generalüberholt werden. Das ist mit dem Weggang der Briten schwer zu erreichen. Ohne die Briten wird es für Deutschland allein noch schwieriger sein, den stabilitätslosen und investitionsfeindlichen Hühnerhaufen der EU marktwirtschaftlich zu beeinflussen. Dann sind wir der „Last Man Standing“, der noch mehr Argwohn auf sich ziehen könnte. Die unschöne Vision eines Auseinanderbrechens des Euroraums würde auch einen Kapitalabzug aus dem Euroraum in den sicheren Hafen USA bewirken. Der Euro käme unter Druck und würde der Finanzwelt signalisieren, dass die Eurozone in ihren Grundfesten schwankt.

„Whatever it takes“-Mario könnte bei einer massiven Staatsanleihekrise dann zwar das ganz große Anleiheaufkaufprogramm starten, um Zinsen und Renditen unten zu lassen. Doch würde die Finanzwelt schnell bemerken, dass es hier nur darum geht, Dreck unter den Teppich zu kehren, ohne ihn wirklich zu beseitigen. Wenn die (wirtschafts-)politischen Probleme nicht angepackt werden, wird im Extremfall der Euroraum zu einer Art Slalomstange, die der Investor wie ein gewiefter Skifahrer umfährt, um an sein sicheres Anlageziel Amerika und Asien zu kommen.

Die EU hat keine andere Wahl: Vogel friss oder stirb! Es müssen die Gummistiefel und Handschuhe angezogen und ausgemistet werden.

Da bleibt nur noch eine Frage: Können aus den mutlosen EU-Verwaltern von gestern wirklich mutige EU-Visionäre von morgen werden?


Robert Halver leitet die Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank. Mit Wertpapieranalyse und Anlagestrategien beschäftigt er sich seit 1990. Er ist durch regelmäßige Medienauftritte im Fernsehen, auf Fachveranstaltungen sowie durch Publikationen und als Kolumnist bekannt. Sein Markenzeichen, der rheinische Humor und die unterhaltsame, bildhafte Sprache, kommen bei keinem seiner Auftritte zu kurz. Siehe auch 7 Fragen an Robert Halver.

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Foto: Baader Bank

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