Haben politische Börsen immer nur kurze Beine?

GASTKOLUMNE

GASTKOLUMNE | Die Börsen zeigen derzeit eine unglaublich dicke Hornhaut gegenüber allen Arten von Krisen.

robert-halver-baader-bank-gastkolumne Von Robert Halver, Baader Bank

Auch, dass das politisch, militärisch und nicht zuletzt wirtschaftlich große Britannien die heilige EU-Familie verlassen will, wird nicht als Freveltat betrachtet. Zugegeben, Großbritannien hatte innerhalb der Verwandtschaft immer die Rolle der bösen Schwiegermutter: Weihnachten und Ostern war sie zwar immer da, doch jeder freute sich, wenn die Feiertage wieder vorbei waren.

Brexit als Non-Event?
Trotzdem, der Verlust der „Schwiegermutter“ wäre für die familiäre Stabilität schade. Es fehlte eine wichtige Zuchtmeisterin, die verhindert, dass der romanische Familienstrang die Rest-EU Richtung Schulden-Union ausrichtet. Aber wo sind jetzt die apokalyptischen Reiterstaffeln, die die Finanzmärkte doch mindestens genauso niedermachen müssten wie an den Chaos-Tagen um Griechenland? Sie scheinen gar nicht erst aufs Pferd zu kommen. Wie kommt das denn?

Einerseits liegt das an der EU-Politik, die so tut, als könne sie auch noch das größte politische Problem aussitzen. Die Zeit heile alle Wunden. Und wenn dann irgendwann das Austrittsgesuch der britischen Regierung bei der EU-Kommission in Brüssel eingeht – so die Hoffnung der EU-Politik – wird das Thema Brexit keine größere Bedeutung mehr haben als die Frage, ob die Bayern die Dortmunder oder umgekehrt schlagen. Treten sie überhaupt aus? Insgeheim will Berlin, dass die stabilen und marktwirtschaftlich orientierten britischen Alliierten trotz Brexit-Referendum bei der Stange bleiben. Selbst wenn sie de jure austreten sollten, will man es irgendwie schaffen, dass sie de facto nicht ausgetreten sind. Das klingt ähnlich wie bei einer Autowerbung: “Nichts ist unmöglich, Europa!“

Andererseits verfolgt die Geldpolitik auf der Insel und dem Kontinent konsequent das Motto „Wer Sorgen hat, hat auch Likör“. Kein auch politisches Problem kann doch wirklich so groß sein, dass es nicht in Liquidität ersäuft werden könnte. Also haben politische Börsen kurze Beine, oder?

Geldpolitik – Es geht nicht ohne sie, es geht nicht mit ihr
In der Tat kann die Geldpolitik viel, sie kann sogar die an sich epochale italienische Bankenkrise mit einem Schnipp verschwinden lassen wie Zauberer David Copperfield Eisenbahnwagons. Dazu muss sie zwar ihr Mandat mit stillschweigender Duldung der Politik – die gespielte Kritik der vielen Empörungsbeauftragten sollte niemand wirklich ernst nehmen – ein wenig ausdehnen. Nein, das ist zu brav formuliert. Die EZB allein bestimmt, wo das Mandat endet. Und es endet dort, wo selbst das Raumschiff Enterprise noch nicht hingekommen: Am Ende des Weltalls.

Aber kann eine EZB die politischen Beine auch längerfristig kurz halten? Mittlerweile ist auch der Grenznutzen von Negativzinsen negativ. Die Kreditvergabe und die Konjunktur in Europa zeigen keine geldpolitische Wirkung. Die Waffen unserer Notenbank sind so stumpf, dass sie kaum Butter schneiden könnten. Natürlich liegt das hauptsächlich an unfähigen Politikern, die aus Angst vor ihrer Abwahl und ihrem Karriereende nichts für die nationalen Wirtschaftsstandorte tun. So bleibt hohe Arbeitslosigkeit ein schmerzlicher Charakterzug in der Eurozone. Und wer praktisch arbeitslos ist, wird sich theoretisch für eine Europäische Idee nicht wirklich erwärmen. Überhaupt, an jeder Ecke regen sich die Sparer auf, dass sie keine Zinsen mehr bekommen und damit ihre Altersvorsorge eine tickende sozialpolitische Zeitbombe ist.

Wenn Europa aber seine Bürger nicht „satt“ macht, macht es leider hungrig auf politische Veränderung in Richtung Extreme. Das würde den Aktienmärkten längerfristig politisch nicht gut tun.

Quo vadis, Türkei?
Neben Großbritannien hat die EU aber noch ein Beziehungsproblem zu einem Land, das gar nicht der EU angehört. Die Türkei ist als Nato-Land in geographisch bedeutender Lage und bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise von geostrategischem Gewicht. Die türkische Regierung hat diese Rolle bereits bis dato tatkräftig für eigene Interessen ausgenutzt.

Der damit ohnehin bestehende Beziehungsstress hat sich durch den fehlgeschlagenen Putsch noch verschärft. Die türkische Staatsführung nimmt dieses grundsätzlich inakzeptable Ereignis zum Vorwand – als Gottes Geschenk – die demokratische Ordnung in der Türkei in große Unordnung zu bringen. Auf den militärischen folgt der zivile Putsch. Allein schon das Wort „Säuberung“ erinnert mich an die dunkelsten Zeiten in Europa. Wie viel Rechtsstaat steckt noch in einem Land, das ein Fünftel der Richter und Staatsanwälte und Tausende Staatsbedienstet absetzt, verhaftet bzw. „frühpensioniert“? Und das alles wenige Tage, wenn nicht Stunden nach dem Putschversuch. Wurde da etwa schon frühzeitig vorgefiltert? Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Die politische Türkei muss wissen, was sie tut. Wirtschaftspolitisch wird das Land die Knute der Investoren und Touristen zu spüren bekommen, die angesichts der prekären politischen Verfassung auf andere Regionen und Länder ausweichen. Politische und demokratische Stabilität ist nun einmal die erste Bring- und nicht Holschuld eines Staates für wirtschaftliche Prosperität. Man muss kein Freund von Rating-Agenturen sein, aber wird diese Bedingung nicht erfüllt, sind Herabstufungen gerechtfertigt.

Bewährungsprobe für die Wertegemeinschaft EU
Entscheidend ist jetzt aber, was die EU macht, die auf den Grundsätzen der humanistischen Aufklärung fußt. Europa darf bei den Freiheitsrechten nicht kuschen, nur um den Flüchtlings-Deal mit der Türkei nicht zu gefährden. Die EU muss ihre Prinzipien des Rechtsstaates verteidigen wie eine Löwin ihre Jungen, auch die mächtigste Frau der Welt. Bei der Zusammenarbeit mit Ländern können in Fragen von Menschenrechten Fünfe niemals grade sein. Sie sind unverhandelbar, unkaputtbar. Hier haben alle EU-Politiker gefälligst laut den Mund aufzumachen. Dagegen müssen die Fischer-Chöre ein heiserer Amateurgesangsverein sein.

Wenn irgendjemand in der Türkei meint, zur Erlangung von Visa-Erleichterungen damit zu drohen, man könne den Zuzug von Flüchtlingen in die EU dosieren wie die aus dem Hahn strömende Wassermenge, muss man ihm klar zeigen, wo die roten Linien sind. Auf einen groben Klotz gehört eben auch ein grober Keil. Anzudrohen, dass die Türkei bei möglicher Wiedereinführung der Todesstrafe kein EU-Mitgliedsland werden kann, läuft dabei übrigens ins Leere. Denn an einem Beitritt besteht hüben wie drüben kein Interesse mehr. Dieser Zug ist politisch längst abgefahren.

Die EU hat jetzt eine riesige politische Chance
Die EU könnte jetzt diese verfahrene außenpolitische Situation nutzen, um innenpolitisch zu Lösungen zu kommen. Ich bin nicht naiv und weiß, dass das nicht einfach ist. Aber wenn nicht jetzt, wann bitte dann will die EU aus ihrer eurosklerotischen Lethargie entkommen? Will sie das Schicksal des Römischen Reiches erleiden, das wegen spätrömischer Dekadenz schließlich eingegangen ist wie eine vertrocknete Primel?

Die EU hat es doch gar nicht nötig, zu duckmäusern. Aus dem Erpressungsversuch kann sich der größte Wirtschaftsraum der Welt durchaus befreien: Die EU-Außengrenze muss gemeinsam gesichert werden und zügig geklärt werden, welcher Flüchtling bleiben kann und wer nicht. Und dann geht es um die gerechte Verteilung, bei der die großen EU-Geldgeber ihren „monetären“ Einfluss als Argument durchaus geltend machen können. Sich am großen EU-Buffet laben und nichts zu seiner Zubereitung beitragen, geht nicht.

Schon kleine gemeinsame Erfolge würden so manchem im Südosten Europas die Augen öffnen, dass viele Machtpotenzialträume in Wirklichkeit eher Schäume sind. Man würde schnell merken, dass man es sich nicht mit allen verscherzen kann. Jeder braucht Freunde. Und Europa ist ein großer wirtschaftlicher Freund. Sollten die Handelsbeziehungen einbrechen und die Türkei in schwieriges Fahrwasser geraten, könnte auch die Zustimmung des Volkes zur politischen Leitfigur leiden.

Die EU darf es nicht wie die drei Affen machen
Die Alternative ist für die EU fatal. Sollte sie nichts sehen, nichts hören und nichts sagen, nicht die politische Auseinandersetzung mit der Türkei suchen, könnte sich der Eindruck bei EU-Bürgern einstellen, dass die Wertegemeinschaft abseits von feinen Sonntagsreden keine Hochkonjunktur hat.

Wirtschafts- und sozialpolitisch ist die Skepsis gegenüber Europa schon groß genug. Ein Werteverfall wäre jetzt die „Krönung“. Die EU darf nie so etwas wie ein Apfel werden, der durch das Polit-Marketing nach außen zwar schön glänzt, nach innen aber moralisch wurmstichig ist.

Ansonsten wird die EU irgendwann einen hohen politischen Preis zahlen müssen. Vor jeder Parlamentswahl in einem EU-Land müsste man Angst vor extremistischen Wahlergebnissen haben. Und auf einmal haben politische Börsen keine kurzen Beine mehr. Sie wären so lang wie die von Giraffen. Und dagegen kann dann selbst die Geldpolitik keine orthopädischen Kürzungen mehr vornehmen.


Robert Halver leitet die Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank. Mit Wertpapieranalyse und Anlagestrategien beschäftigt er sich seit 1990. Er ist durch regelmäßige Medienauftritte im Fernsehen, auf Fachveranstaltungen sowie durch Publikationen und als Kolumnist bekannt. Sein Markenzeichen, der rheinische Humor und die unterhaltsame, bildhafte Sprache, kommen bei keinem seiner Auftritte zu kurz. Siehe auch 7 Fragen an Robert Halver.

Über mögliche Interessenkonflikte und rechtliche Hinweise informieren Sie sich bitte im Disclaimer der Baader Bank. Die Meinung des Gastautors muss nicht unbedingt mit der Meinung der Redaktion übereinstimmen.

Foto: Baader Bank

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*