Der Zerfall Europas – Das unterschätzte Finanzmarktrisiko?

KOLUMNE | Seit 1990 hat sich Europa immer mehr integriert. Mittlerweile haben 19 Staaten sogar eine gemeinsame Währung. Dem Ziel einer europäischen Stabilitäts- und Wertegemeinschaft schien man immer näher zu kommen. Europa entwickelte sich zum starken Block, der sich gegenüber den geopolitischen Machtzentren USA, China oder den Emerging Markets insgesamt gut aufgestellt hatte. Selbst Amerika schien damals Respekt vor dem neuen „geeinten“ Europa zu haben.

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Von Robert Halver, Baader Bank

Was für eine schöne Vision! Und heute? Auf der Verpackung der Eurozone steht zwar immer noch Stabilitätsunion drauf, längst ist aber Schuldenunion drin: Das Verbot zwischenstaatlicher Finanzhilfen wurde auf der Flucht vor der Finanzkrise ebenso erschossen wie das Verbot der Staatsfinanzierung durch die EZB. Die politische Klasse meinte wohl, dass diese finanz- und geldpolitische Flurbereinigung „alternativlos“ sei, um die Euro-Familie zusammenzuhalten. Und gemäß dieser neuen Harmonie hat Familienmitglied Griechenland seit März 2010 nicht nur einmal Hilfe empfangen – wie zunächst von Familienoberhaupt Deutschland versprochen – sondern mittlerweile bereits dreimal. Man muss kein Prophet sein, um zu wissen, dass es nicht bei drei bleibt. Warum sollte eigentlich die EZB nicht auch noch griechische Staatspapiere aufkaufen? Wenn man alles Euro-Stabilitätsgeschirr zerschlagen hat, braucht man doch vor der letzten Tasse nicht Halt zu machen, oder? Immerhin würde man mit dieser zinsdrückenden, haushaltsentlastenden Stabilitätslüge einen unter normalen Umständen dringend notwendigen griechischen Schuldenschnitt unnötig machen. So umgeht die EZB jeden neuen griechischen Finanzstress. Sie sorgt für Stabilität durch die Hintertür. Für jeden kommt einmal die Stunde der Wahrheit und dann heißt es lügen, lügen, lügen.



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Mit dieser an einem Hit der Hardrock-Band Dire Straits, nämlich „Money for nothing“, orientierten Geldpolitik wird auch zukünftig jede Finanz-, Schulden- oder Bankenkrise platt wie eine Flunder gekloppt. Allerdings steckt big spender EZB damit in einem fürchterlichen Dilemma: Wird sie irgendwann geldpolitisch restriktiv, schafft sie eine neue Euro-Staatsschuldenkrise über steigende Anleiherenditen. Hält sie dagegen an ihren großzügigen Anleiheaufkäufen fest und forciert sie vermutlich sogar noch, fördert sie den Reform-Schlendrian in den Euro-Staaten, da nationale Finanzpolitiker keine Risikoaufschläge bei Anleihen befürchten müssen.

Dieser radikale Verlust an fiskalischer und geldpolitischer Stabilität ist schon schlimm genug. Unsere zinslose Altersvorsorge wird uns noch ebenso auf die Füße fallen wie die Kastration unserer Privatwirtschaft über sich weiter verschlechternde Standortqualitäten. Ich nenne das den schleichenden Wirtschafts-Tod Europas.

Die Renationalisierung in Europa ist wieder da

Doch das ist nichts gegen ein noch viel größeres Problem. Denn Europa sieht sich mit einer Existenzkrise bedroht. In der unsolidarischen Bewältigung der Flüchtlingskrise zeigt die so hochgelobte christliche Wertegemeinschaft Züge des Antichristen. In puncto Leistung, Hand aufhalten, bei Finanzhilfen für schwache Länder und der Finanzierung einer erhöhten Nato-Präsenz in Osteuropa gegen den vermeintlich bösen Ivan sind alle froh, dass Deutschland sein Portemonnaie aufmacht. Und um Griechenlands Verbleib in der Eurozone zu sichern, hatte niemand auch nur eine Spur von Gewissensbissen, dass wir unsere goldglänzenden Maastricht-Stabilitätskriterien aufgeben mussten, die doch eigentlich die Bedingungen für die Aufgabe der Deutschen Mark und die Annahme des Euros waren. Deutschland muss sich heute vorkommen wie Hans im Glück, der am Anfang einen großen Klumpen Gold besaß und zum Schluss gar nichts mehr.

Aber jetzt, wo wir nach Gegenleistung, nach Solidarität fragen, stellen die anderen EU-Staaten die Ohren auf Durchzug. Ja, die Hand die gibt, ist die erste, die gebissen wird. Wir erleben Staatsversagen auf allerhöchster europäischer Ebene. Nicht zuletzt ergeben sich jetzt ganz neue Machtverhältnisse. Da Griechenland als unmittelbarer Nachbarstaat zur Türkei zur Bewältigung der Flüchtlingskrise bedeutend ist, kann der griechische Ministerpräsident vollmundig Forderungen aufstellen und seinen Reformeifer auf Schneckentempo drosseln. Die Euro-Hegemonialmacht Deutschland leidet unter Machtverlust: Heute ist Alexis Tsipras mächtiger als Angela Merkel.

Regellos durch die EU-Nacht

Es ist ein unhaltbarer Zustand, dass in der EU Regel- und Gesetzesbruch in puncto Grenz- und Asylfragen an der Tagesordnung sind. An dieser Entwicklung trägt die deutsche Politik aber selbst große Schuld: Wer die entsprechenden Regeln selbst bricht, gibt anderen ja geradezu ein Alibi, sich ebenfalls rechtswidrig zu verhalten. Und wenn Europa sich schon nicht an geschriebenes Recht hält, wie schwer muss es dann erst sein, eine Verteilung von Flüchtlingen oder die Sicherung von EU-Außengrenzen auf moralischer Basis zu erreichen?

Zur solidarischen Einsicht halfen da bislang auch nicht EU-Gipfel, die nach dem Motto abliefen „Es kreiste der Berg und gebar eine Maus“. Eine aktuell besonders bemerkenswerte Idee ist es, EU-Staaten, die bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen, Geld zu geben. Am besten kommt das Geld direkt aus dem Klingelbeutel Mario Draghis, oder?

Die Flüchtlingskrise ist auch eine Regierungskrise

Selbst unsere deutsche Große Koalition ist kaum fähig, die Flüchtlingskrise national wirkungsvoll anzupacken. Hieß es nicht früher immer, große Koalitionen könnten große Probleme lösen? Im Moment steht GroKo nur für „Große Koordinationsschwierigkeiten“, für politische Grabenkriege sogar innerhalb der Parteien. Hatte man etwa im Frühjahr, als das Flüchtlingsproblem spätestens bekannt war, die Hoffnung, dass der Kelch an einem vorübergeht? Hoffnung ist immer die letzte Weisheit der Politiker.

Wenn aber schon die Regierung in Deutschland mit ihrer dicken Mehrheit kaum Lösungen findet, wie will man dann eine Lösung aller EU-Länder bewerkstelligen? Wenn der EU-Verein weiter durch gegenseitiges Hauen und Stechen auffällt und/oder seine Bürger und vor allem Jugendliche weiter durch unverantwortliches Reform-Nichtstun seiner Politiker desillusioniert werden, ist die Gefahr groß, Europa für alles Negative verantwortlich zu machen. Schon jetzt gären gewaltige nationale Egoismen und Abschottungsmaßnahmen. Wenn der Wunsch nach Renationalisierung immer größer wird, ist Europa langfristig in seiner Existenz gefährdet. Dagegen ist selbst bei der EZB kein Kraut gewachsen.

Brexit wäre ein fatales anti-europäisches Signal

Bis 2017 plant das Große Britannien eine Abstimmung über die EU-Mitgliedschaft. Im Augenblick sieht es laut Umfragen für den Verbleib der Briten in der EU nicht wirklich gut aus. Rational machte ein Dasein der Briten Out of Europe zwar keinen Sinn, die Insel wäre tatsächlich eine Insel der wirtschaftlich Verdammten. Doch für viele Briten ist der Brexit ein Wert an sich, eine Befreiung von der knubbeligen europäischen Verwandtschaft. Vielleicht wäre es um die englische Küche nicht schade. Und sicherlich schlagen Briten hin und wieder anti-europäisch über die Stränge. Aber insbesondere für uns Deutsche mit unserer in Außenhandelskonkurrenz stehenden Industrie wäre das britische EU-Aus ausgesprochen schlecht. Denn die Briten stehen für Marktwirtschaft, Wettbewerbsfähigkeit und Staatshaushaltsdisziplin. Ohne Briten sind wir Deutschen ziemlich allein mit den planwirtschaftlichen Gesundbetern der Rest-EU, die sich eine reformverweigernde, schuldenfinanzierte Staatswirtschaft mit Bezahlung von der EZB ähnlich stark wünschen wie ich früher eine Märklin-Eisenbahn an Weihnachten.

Der Brexit könnte der erste umfallende Dominostein sein. In den Köpfen von Bürgern und Investoren könnte sich danach die Meinung bilden, dass Europa ein Auslaufmodell ist. Und würde gar Marine Le Pen – die Anti-Euro-Jeanne d’Arc – 2017 bei den französischen Präsidentschaftswahlen gewinnen, könnte sie nach britischem Beispiel aus der Eurozone unter dem Vorwand austreten, Frankreich von der vermeintlichen Hegemonialmacht Deutschland zu befreien. Spätestens dann sind Europa und die Eurozone – um es mit der australischen Hardrock-Band AC/DC zu sagen – auf dem „Highway to Hell“.

Wehe, wenn die europäische Stimme verstummt

Sollte Europa politisch dahin siechen, verliert es auch wirtschaftlich an Lebenskraft. Denn Europas Unternehmen werden dem EU-Zerfall nicht lange zuschauen. Wenn der europäische Investitionsstandort erkaltet, machen sie es wie Zugvögel im Winter, sie fliegen davon. Es wird eine Kapitalflucht ins (reform-)politisch wärmere Amerika und Asien einsetzen. Dort legt man Europas Top-Unternehmen und den industriellen Patentträgern ohnehin den roten Teppich aus. Und wenn die Unternehmen aus Europa wie Adler wegfliegen, werden Europas Aktienmärkte wie Hühner auf dem Boden scharren.

Die europäischen Politiker haben die verdammte Pflicht endlich zu begreifen, um was es geht. Nationales Klein-Klein setzt alles aufs Spiel. In unserer globalen Welt sind Europas Länder nur noch Operettenstaaten. Im Extremfall wird Europa zwischen den Global Playern USA, China und Russland zerrieben wie ein Stück Parmesan in der Käsereibe.

Insbesondere das stärkste Land Europas, Deutschland, muss endlich Nägel mit Köpfen machen. Merkel, Gabriel und Seehofer sind nicht gewählt worden, um Schönheitspreise zu gewinnen, sondern gemäß Amtseid ihre Kraft dem Wohle des deutschen Volks zu widmen, seinen Nutzen zu mehren und Schaden – eben auch im Sinne Europas – von ihm abzuwenden. Nicht Krisenmoderation, sondern Entscheidungen mit Herz und auch viel Verstand sind gefragt. Mit Adenauer, Brandt, Schmidt, Kohl und Schröder hat es in der Vergangenheit viele Politiker gegeben, die diesem auch europäischen Anspruch selbst in kleinen Koalitionen genügten. Muss man das nicht jetzt auch von zwei Volksparteien verlangen, die sich – weil sie gemeinsam regieren – nicht gegenseitig in den Rücken fallen müssen?

Ich komme aus dem Dreiländereck Deutschland, Belgien, Niederlande. Ich finde Europa klasse. Ich will in keiner EU-Politik- und -Wirtschaftswüste leben und damit den USA und China das Feld überlassen.

Deutsche und EU-Politiker hört endlich die Signale, auf zum letzten Gefecht für Europa! Glück auf!

Robert Halver leitet die Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank. Mit Wertpapieranalyse und Anlagestrategien beschäftigt er sich seit 1990. Er ist durch regelmäßige Medienauftritte im Fernsehen, auf Fachveranstaltungen sowie durch Publikationen und als Kolumnist bekannt. Sein Markenzeichen, der rheinische Humor und die unterhaltsame, bildhafte Sprache, kommen bei keinem seiner Auftritte zu kurz. Siehe auch 7 Fragen an Robert Halver.


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Foto: Baader Bank

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